Sich abgrenzen lernen – Übungen für deinen Selbstwert
Gesunde Grenzen zu setzten ist wichtig und richtig. Allerdings ist das keine Fähigkeit die uns von Haus aus in die Wiege gelegt wird. Damit es mit Grenzen und dem Selbstwert dennoch klappt, hier einige Tipps zum Setzen gesunder Grenzen im privaten wie beruflichen Bereich.
Was versteht man eigentlich unter Grenzen setzen?
Kurzum es geht hier um ein klares und deutliches NEIN. Damit du dieses Nein jedoch auch mit gutem Gewissen und erhobenen Hauptes aussprechen kannst, braucht es etwas Mut und Selbstvertrauen. Mut und Selbstvertrauen haben wir zwar alle, aber auch alle in einem gesunden Ausmass? Und kennst du eigentlich deine eigenen Grenzen? Oftmals haben wir uns nicht einmal die Zeit genommen über unsere Grenzen oder unseren Selbstwert nachzudenken, bevor wir auf eine Bitte reagieren und trotz unseres inneren Widerstands – unserem Bauchgefühl – mit «Ja» antworten. Gut wäre vor jeder Antwort in sich zu gehen und sich zu fragen: Will ich das wirklich? Wie fühle ich mich dabei? Überschreitet der nette Kollege oder das Familienmitglied soeben wieder meine Grenzen und wie kann ich Sie zurückweisen ohne dass ich mich dabei schlecht fühle?
Das klingt jetzt vielleicht etwas entmutigend und für manche Situationen nicht anwendbar, du wirst aber sehen, es ist machbar und es gibt keine Situation in der man sich diese Fragen nicht stellen kann. Und die gute Nachricht lautet, wie Muskeln lassen sich auch Mut, Selbstvertrauen und Selbstreflexion trainieren und aufbauen.
Ich und meine Grenzen, ich und meine Ziele
Es gibt viele Gründe wieso du dir mit Abgrenzung eventuell schwer tust. Wenn deine Grenzen als Kind oft übertreten wurden, du hochsensibel bist, oder in das traditionelle weibliche Geschlechtsbild der hilfsbereiten und umsorgenden Frau hineingewachsen bist, dann sind das nur einige Beispiele die zur Folge haben können dass es dir so verdammt schwer fällt «Nein» zu sagen.
Wenn du Lust und Zeit hast, dann können die drei folgenden Übungen hilfreich sein. Diese sind kein Muss und vor allem nicht jetzt sofort, aber wenn du irgendwann feststellen solltest dass du trotz aller Anstrengung in manchen Situationen wieder in das Schema des unreflektierten «Ja-Sagens» fällst, dann kannst du definitiv darauf zurückgreifen.
Übung 1 – Ziele setzen, «Neins» bewusst planen
Nimm dir eine halbe Stunde Zeit, Stift und Papier und suche dir einen ruhigen Ort an dem du nicht gestört wirst.
Schreibe dir deine Ziele auf. Diese können gross oder klein sein, privat oder beruflich und müssen im ersten Anlauf auch noch nicht SMART (spezifisch, messbar, erreichbar, angemessen und zeitgebunden) sein. Zum Beispiel: «Ich möchte mehr Zeit für mich», oder «Ich möchte Projekt A rechtzeitig, erfolgreich und stressfrei abschliessen».
Stelle dir nun vor, wie «mehr Zeit für mich» aussehen könnte und stelle dir vor was du in dieser Zeit machst und wie du dich dabei fühlst. Auch bei «Projekt A» stelle dir den Tag vor an dem du es rechtzeitig, erfolgreich und stressfrei abgeschlossen hast und wie sich das anfühlt.
Notiere nun welche Ressourcen du zur Hand hast um deine Ziele zu erreichen und was oder wer dich davon abhalten könnte diese zu erreichen. Bei «Mehr Zeit für mich» steht dir eventuell sogar Projekt A im Weg und das weil du drauf kommst, dass du zu viele extra Dinge vom netten Kollegen Mustermann übernimmst die dazu führen, dass du im Projektplan hinterherhinkst. Egal was es ist, stelle nun sicher dass deine Ziele SMART formuliert werden und notiere dir die Dinge die getan werden müssen um sie zu erreichen. Nachdem ein «Meilenstein» sein könnte die Anfragen vom Kollegen Mustermann mit einem selbstbewussten «Nein» zu beantworten, gibt es im Anschluss an Übung drei die Tipps zum gekonnten und schuldfreien «Nein-Sagen».
Um deine Ziele auch zu erreichen hole dir eventuell einen Verbündeten ins Boot, einen sogenannten Accountability-Partner. Diese Person steht dir Nahe und hilft dir deine Verpflichtung – die du dir selbst gegenüber machst – einzuhalten.
Übung 2 – Hinterfragen und sich den Gründen bewusst werden
Mithilfe der 5-W Methode (5 why oder 5 warum) kannst du etwas Detektivarbeit leisten und der mangelnden Fähigkeit zur Abgrenzung auf den Grund gehen. Zumeist ist die Unfähigkeit «Nein» zu sagen mit Ängsten verbunden. Sich dieser bewusst zu werden und festzustellen, dass diese oftmals irrational sind, kann sehr hilfreich sein. Ein Beispiel fürs Hinterfragen könnte wie folgt aussehen:
- «Warum übernehme ich die Extra-Aufgaben meines Kollegen?» -> «Weil ich bei einem Nein einen Konflikt befürchte und scheue.»
- «Warum scheue ich einen Konflikt?» -> «Weil ich Angst davor habe abgelehnt zu werden.»
- «Warum habe ich Angst vor Ablehnung?» -> «Weil ich nicht als Aussenseiter gelten will».
- «Warum will ich nicht als Aussenseiter gelten?» -> «Weil ich nicht allein sein will.»
- «Warum will ich nicht allein sein?» -> «Weil ich mich in der Vergangenheit oft anders und allein gefühlt habe und mir das in schlechter Erinnerung blieb.»
Das Hinterfragen ist nicht immer so einfach und etwas in sich gehen und Ehrlichkeit ist notwendig. Die Übung kann aber hilfreich sein beim Aufdecken alter Gedankenmuster um auch festzustellen, dass diese nicht der Realität entsprechen und damit verbundene Ängste oftmals unbegründet sind.
Übung 3 – Die Trockenübung, Visualisieren und Fühlen
Nimm dir wieder etwas Zeit und suche dir einen ruhigen Ort an dem du die nächste halbe Stunde ungestört sitzen kannst, du kannst die Augen schliessen oder offen lassen, je nachdem wie du dich wohler fühlst. Versetze dich gedanklich in eine Situation zurück in der du «Ja» gesagt hast, obwohl ein «Nein» eigentlich die gesündere und vom Bauchgefühl her die richtige Wahl gewesen wäre.
Stelle dir die Situation so detailgetreu vor wie es nur geht. Wie fühlst du dich im Moment der Anfrage der anderen Person. Fühle ganz genau in dich hinein. Bist du aufgewühlt, verwirrt, gestresst? Wo im Körper fühlst du diese Emotionen? Schicke die Person in Gedanken nun weg. Wie fühlst du dich nun, nachdem du «Ja» gesagt hast? Welche Emotionen nehmen nun die Überhand und wo genau spürst du diese wieder in deinem Körper?
Um von den Emotionen wegzukommen, richte deine Aufmerksamkeit nun auf deine Atmung. Wo spürst du sie am ehesten? Spürst du den Luftstrom bei den Nasenlöchern, spürst du die Expansion des Brustkorbes oder das Heben und Senken des Bauchraumes? Konzentriere dich nur auf die Atmung und verfolge sie genau vom ersten Einatmen bis zum letzen Ausatmen. Mache das für mindestens 10 volle Atemzüge. Du kannst auch in Gedanken mitzählen.
Stehe auf, öffne die Augen und schüttele dich aus. Werde dir kurz bewusst, über all die Vorgänge die sich in deinem Körper abspielen wenn es mit dem Abgrenzen nicht so funktioniert.
Setze dich wieder hin und stelle dir nun eine neue typische Alltagssituation vor. Eine Person die dich des Öfteren mit Anfragen konfrontiert kommt auf dich mit einer neuen Bitte zu. Spüre wieder in dich hinein, was geht in deinem Körper vor? Nun stelle dir vor, dass du anstelle von einem sofortigen und unreflektierten «Ja» Folgendes sagst: «Das kann ich jetzt spontan nicht sagen, ich gebe dir später Bescheid» oder «Das tut mir leid, es geht sich zeitlich nicht aus». Mit dem «es tut mir leid» drückst du dein Verständnis aus, entschuldigst dich jedoch nicht. Denn seine eigenen, gesunden Grenzen zu setzen benötigt weder einer Rechtfertigung noch einer Entschuldigung.
Stelle dir vor, dein Gegenüber reagiert anhand der ungewohnten Antwort zwar etwas irritiert, akzeptiert dies jedoch ohne weitere Diskussion (das ist tatsächlich in den allermeisten Fällen so). Wie fühlst du dich nun und wo nimmst du diese Gefühle im Körper wahr? Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, entspanne dein Gesicht und konzentriere dich wieder auf ein paar Atemzüge bevor du aufstehst und dir den Geschehnissen bewusst wirst.
Diese Visualisierung soll dir helfen dir über deine Vorgänge und Gefühle bewusst zu werden und dir die emotionalen und selbstwertbezogenen Vorteile des Grenzen setzen in einer sicheren Umgebung vor Augen führen.
Konkrete Tipps – die verschiedenen Arten «Nein» zu sagen
Zu Beginn wird es sich vielleicht komisch für dich anfühlen «Nein» zu sagen und das vielleicht sogar ohne weitere Begründung. Deswegen gibt es für den Anfang, aber nicht nur, alternative Sätze die genauso wirksam sind und, weil dir das vielleicht wichtig ist, auf dein Gegenüber Rücksicht nehmen.
Kommt die Anfrage per Email oder Chat, dann fällt es dir wahrscheinlich wesentlich leichter Grenzen zu setzen. Du hast Zeit nachzudenken und deine Antwort klar zu formulieren. Aber auch bei mündlichen Anfragen, die jetzt nicht sofort eine Antwort benötigen, sei dir über folgende Punkte im Klaren bevor du antwortest:
- Will ich das überhaupt?
- Will ich alles oder nur einen Teil davon nicht machen?
- Habe ich Zeit dazu oder setzt mich das unter Druck?
- Wie fühle ich mich dabei, was sagt mein Bauchgefühl?
1 – Zeit gewinnen um bewusst Grenzen zu setzen
Bei mündlichen Anfragen, die nicht sofort eine Antwort benötigen, kannst du jederzeit mit folgenden oder ähnlichen Sätzen antworten
- «Das kann ich jetzt nicht sagen, bis wann brauchst du meine Antwort?» oder
- «Es tut mir leid, das weiss ich jetzt nicht, ich gebe dir später Bescheid».
- Ist dir das zu wage, dann kannst du auch gerne etwas konkreter werden wie z.B. «Ich muss erst meinen Kalender checken, bis wann brauchst du meine Antwort?».
Wenn du aber unter Zeitdruck stehst, reicht es oft schon, die Anfrage des Gegenüber zu wiederholen, eine Frage zu stellen oder mit einer eigenen Erfahrung zu verknüpfen. Das bringt dir ein paar Sekunden in denen du dir deinem Wunsch bewusst werden und die Antwort vorbereiten kannst. Zum Beispiel.:
F: Es gibt heute Abend ein Geschäftsessen bei dem ich nicht anwesend sein kann, kannst du mich vertreten?
A: Ein Geschäftsessen, das letzte Mal war ich mit XY bei einem Geschäftsessen im Restaurant XYZ. Heute Abend geht aber leider gar nicht, da ich bereits einen wichtigen persönlichen Termin habe.
2 – Das A&O Aufrichtigkeit und keine Ausreden
Was es beim gekonnten Grenzen setzen zu beachten gilt: Die Antwort soll der Wahrheit entsprechen. Man kann auch sagen, dass einem das ganz einfach nicht ins Konzept passt, es so kurzfristig zu viel Stress bedeutet oder was auch immer man fühlt bzw. die Situation richtig darstellt.Wichtig ist hierbei vor allem, dass du nicht in Ausreden verfällst oder dich rechtfertigst, denn das schwächt deinen Standpunkt.
Das Ziel hier ist ganz klar «Kommunikation auf Augenhöhe».
3 – Grenzen setzen mit «Jein» oder «Ja aber»
Es soll ja auch vorkommen, dass man etwas tatsächlich gerne machen würde, aber eben nicht unter den gegebenen Umständen oder zum verlangten Zeitpunkt. Auch in dieser Situation kann man sich sehr einfach helfen und durch Gegenvorschläge oder Bedingungen gesunde Grenzen setzen.
Also, nutze die oben genannten Tipps zum Zeit gewinnen und höre kurz in dich hinein. Antworte dann mit einem «Ja aber» oder «Jein» je nach Situation. Eine «Ja, aber» Situation könnte wie folgt aussehen:
F: «Kannst du mir heute Nachmittag (montags) bitte mit dem Umräumen der Archive helfen?»
A: «Ich helfe dir gerne am Donnerstag zwischen 14 und 18 Uhr, vorher habe ich keine Zeit.»
Es gibt Teile einer Bitte die du gerne erfüllst, aber andere die dir widerstreben? Dann könnte eine «Jein» Antwort die Lösung sein:
F: «Übermorgen steht die grosse Präsentation des Projektes XY an und ich brauche deine Hilfe bei den Vorbereitungen.»
A: «Ich helfe dir gerne morgen Vormittag von 10 bis 12 Uhr beim Vorbereiten des Kanbans und den Prints, kann dir aber beim Vorbereiten der Technik nicht behilflich sein.»
3 – Beispielsätze für ein bestimmtes «Nein» mit Anerkennung der Situation des Gegenüber
Genauso oft wie wir Dinge nur teilweise oder zu einem für uns passenden Zeitpunkt machen möchten, kann es auch vorkommen dass man ganz einfach andere Prioritäten, Zeitdruck oder einfach keine Lust hat. Dennoch ist es für manche von uns wichtig, dass man die Situation des Gegenüber anerkennt bevor man eine Bitte ablehnen muss.
In dem Fall helfen Sätze wie:
«Ich verstehe, dass das für dich wichtig ist, ich habe aber leider keine Zeit.»
«Ich kann nachvollziehen, dass das für dich schwierig ist, bin aber überzeugt, dass du es schaffst.»
«Ich verstehe dass du Hilfe brauchst, das Wochenende ist jedoch für meine Familie reserviert.»
«Ich helfe dir gerne, aber für diese Aufgabe fehlt mir die Zeit, das Fachwissen etc.»
Achte darauf nicht in ein – ich würde dir gerne helfen – zu verfallen, damit schwächst du deinen Standpunkt und riskierst, dass dein Gegenüber eine Chance wittert dich mit eindringlichen Bitten doch noch zu einem «Ja» zu bewegen. Hingegen impliziert ein «es tut mir leid» – wie in Übung 3 bereits erwähnt – keine Rechtfertigung sondern wie in den anderen Beispielsätzen eine Anerkennung der Situation des Gegenübers.
4 – Im Nachhinein die Meinung ändern
Zu guter Letzt sei dir darüber bewusst, dass es immer einfacher ist ein «Nein» später in ein «Ja» umzuwandeln als umgekehrt. Vom «Nein» zum «Ja» benötigt keine Rechtfertigung und hat auch keine Enttäuschung des Gegenübers zur Folge. Anders verhält es sich mit einem «Ja» welches du schlussendlich doch, und aus welchem Grund auch immer, zu einem «Nein» machen musst. Damit begibst du dich in eine unangenehme Situation und eine Kommunikation auf Augenhöhe ist in diesem Fall schwierig, da – je nach Fall – doch eine Rechtfertigung notwendig wird und dem Gegenüber dadurch auch zusätzlicher Stress entsteht.
Also, tu dir UND deinem Gegenüber einen Gefallen und antworte – wenn du unsicher bist – vorab mit einem «Nein». Sollte sich später herausstellen, dass du doch Zeit oder Lust hast zu helfen, dann kannst du immer noch «Ja» sagen. Das bedeutet weniger Stress für dich und deinem Gegenüber, eine Kommunikation auf Augenhöhe und gesunde Grenzen in deinem Leben.
Ich hoffe, manche Tipps und Übungen aus dem Artikel sind dir hilfreich. Nun wünsche ich dir viel Spass beim Setzen neuer Grenzen und dem angenehmen Nebeneffekt neue Dimensionen des Selbstwertes zu entdecken.
Zusammenfassend:
- Nicht sofort «Ja» sagen, sondern Zeit gewinnen um bewusst so zu antworten wie du es wirklich möchtest
- Eine Teilzusage erteilen oder die Zusage an Bedingungen knüpfen (Ja gerne, am Montag von bis)
- Nein sagen mit Anerkennung der Situation des Anderen (Ich verstehe dich, es geht sich zeitlich bei mir nicht aus)
- Nein sagen mit kurzer, bestimmter Begründung aber ohne Ausreden oder Rechtfertigung (ich kann nicht, mag das nicht, habe schon anderes geplant)
- Im Zeitdruck lieber direkt mit «Nein» antworten und dann eventuell später in ein «Ja» umwandeln, nicht umgekehrt
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